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Jetzt bewohnte ich eine WG mit Ludger!
Ludger hatte schon immer hier gewohnt, es war sein Elternhaus, das er nach dem Ableben seiner Eltern übernommen hatte, incl. dem Pudel namens Pascha (Name nicht geändert). Pascha war der Hund alter Leute gewesen. Wenn er winselte, um mal zu »müssen«, öffnete man ihm die Haustür und der Hund kackte dann ganz unbefangen auf den Hof. Manchmal streifte er noch auf dem Grundstück herum bis zum Zaun, um in den Wald zu schnuppern. Manchmal kackte er in mein Zimmer.
»Barfuß« blieb bis zuletzt spannend.
Ludger hatte Kellerräume satt. Einmal die Woche trug er das Altglas von unter der Küchenspüle in den hintersten Kellerraum und stellte das Leergut in Reih und Glied an die Wand. Die Wochen flogen nur so dahin. Nach einer Weile war Kellerraum 1 mit einer geschlossenen Glasdecke versehen, dann wurde Kellerraum 2 ausgebaut. Irgendwann kam Ludger hoch und sagte zu mir den gefürchtetsten aller Sätze: »Wir müssen Altglas wegbringen!«
Bewaffnet mit allen Plastiktüten, derer wir habhaft werden konnten (und das waren einige), machten wir uns daran, säckeweise Glas mit verschiedenfarben schimmelnden Inhalten einzusammeln (Nutella schimmelt eher grau, Nusspli eher grünlich). Die beiden Autos wurden bis zum Stehkragen damit vollgestopft (mein Kadett D schaffte mit umgeklappter Rückbank eine Riesenmenge). Mit beiden Autos zweimal fahren - fettich!
Dann fing alles wieder von vorne an.
Im Keller des Hauses hätte man WK II-Luftschutzbunkerfilme drehen können. Das lag zum Einen am vor sich hinrottenden Gewölbe-Ambiente, zum Anderen daran, dass völlig authentische Lebensmittelkonserven dort herumstanden. Zum Beispiel gab es Einmachgläser voller mittlerweile durch Ausbleichen kaum noch zu identifizierenden Obstleichen à la »Stachelbeere« und »Sauerkirsche«. Spektakulär war eine Sammlung weiß angelaufener Zinkblechkonserven und vor sich hinrostender unverzinkter Konservendosen. Die Konserven waren aus einer Zeit, als es noch nicht üblich gewesen war, ein Mindesthaltbarkeitsdatum aufzudrucken. Der Höhepunkt der Ausstellung war eine kleine Dose Mandarinenstücke, die in einer schwarz-glänzenden Pfütze Fäulnis stand. Das Etikettenpapier war rundum schwarz angelaufen und der Ausdruck nur noch durch die Unterschiede von matter zu glänzender Oberfläche auszumachen. Vorne, mittig durch die Dose, wuchs ein knubbeliger graugrüner Pilz durchs Blech nach außen.
Eines Tages fand ein lustiges Kaffeetrinken mit den halben Freundeskreis statt. Hoch die Kaffeetassen! Irgendwann ging die Kaffe-Milch zur Neige und Kumpel Frank sagte: »Ich weiß, wo die im Keller steht!«, sprang auf und verschwand. Im Handumdrehen tauchte er wieder auf, eine Konservendose »Bärenmarke« in Vorhalte. Das Etikett wirkte seltsam antiquiert, das Blech war angelaufen. Alle blickten zweifelnd, außer Frank, der bereits nach einem Dosenlocher suchte. Eins, zwei waren die Löcher gestanzt. Frank drehte die Dose um und drückte - nichts! Er drückte fester. Noch fester. Endlich kamen graue, griesige Würste aus den Löchern. Als er den Druck minderte, wurden die Würste wie Rotz wieder in die Dose zurückgesaugt incl. eines hoch authentischen Geräuschs. Alle starrten mit ekelgeweiteten Augen, nur nicht Frank, der seine Bemühungen verstärkte. Zuletzt bekam er genügend von der grauen Masse in die Tasse, verrührte das Ganze und nippte zur Fassungslosigkeit aller tatsächlich an seinem völlig verseuchten Heißgetränk. Der Kaffe schmeckte »grau«. Bei dem Schluck ließ er es bewenden. Er hatte noch Stunden später stumpfe Zähne davon.
Merke: Ist »Bärenmarke« in Frakturschrift geschrieben, ist das Verfallsdatum überschritten.
Ludger war ein großer ambulanter Esser*. Er hatte das ambulante Essen quasi auf eine ganz neue Ebene befördert. Lässig stand er an der Anrichte, einen offenen Tetra-Pak O-Saft in die Achselhöhle geklemmt, in der einen Hand eine Scheibe Aldi-Graubrot, in der anderen Hand eine Packung Fleischsalat zum Dippen. Hier wurde im wahrsten Sinne »aus dem Stand« - ein komplettes Mahl bereitet und verschlungen, ohne dass man solchen Killefitt wie Teller, Besteck oder gar Servietten benötigt hätte. Finger ablecken, O-Saft-Tüte angesutscht und halbvoll in den Kühlschrank stellen und dort vergessen - das war ambulantes Essen at its best!
*) Gegenteil: "stationäres Essen", z.B. regulär an einem Tisch
Wenn so ein geöffneter und angesutschter 1,5 l-O-Saft mal eine zweistellige Anzahl an Kalenderwochen im Kühlschrank vor sich hin gerottet hatte, war die Entsorgung desselben nichts für Lappen. Normalerweise würde man den Inhalt des Beutels in die Spüle oder ins Klo kippen. Normalerweise. Schon, wenn man den Beutel kippte, konnte man spüren, wie sich ein faustgroßer, kompakter Strunk Fäulnis im Inneren verlagerte und - tschwomp! - den Ausguss am Tetra-Pak verstopfte. Ja, auch, wenn man sehr fest drückte. Dies war immer ein Kandidat für komplett-in-die-große-Tonne!
Eines Tages betrachtete Ludger versonnen seine Wohn-Küche. Er entdeckte einen flammend orangeroten elektrischen Hähnchengrill, ein Relikt aus den 80ern. In einem Anfall von Häuslichkeit beschloss er, das Ding einfach mal zu benutzen. Erstmalig in seinem Leben kaufte er bei ALDI ein tiefgefrorenes Hähnchen. Doch wohin mit dem gefrorenen Geflügel? Ludger, nicht dumm, steckte das Getier zum Auftauen direkt in den ausgeschalteten Mini-Grill, denn so war es nirgends im Weg!
Ein genialer Plan! Begeistert wandte Ludger sich anderen Dingen zu.
Es wurde April.
Die Quelle des grauenerregenden Verwesungsgeruchs in der Küche war nicht leicht auszumachen. Zuletzt fand man das wirklich, wirklich sehr aufgetaute Hähnchen im besagten Elektrogerät. Dummerweise öffnet Ludger die Luke. Es blieb kein Auge trocken. Das Hähnchen hatte übrigens bereits wieder dichten Flaum. Es hörte auf den Namen Haarald. Ludger schmiss entgegen sonst so strenger Mülltrennungsregeln Haarald mitsamt seinem Minigrill-Sarkophag auf den Müll.
Es kam, wie es kommen musste: Sigrun (Name geändert) trat in Ludgers Leben. Sigrun war arg reinlich und urst häuslich. Sie war eine spektakuläre Bäckerin und Köchin, als Hobby sammelte sie Kochbücher. Ihre Küche war stets sauberer als ein Reinraum bei der Mikrochipherstellung. Wir haben das heimlich überprüft. Mehrfach. Und selbst in der Woche deckte sie morgens vor der Arbeit den Tisch mit Sets, die mit den diversen »Servietten der Saison« wohlfeil harmonierten.
Das Ambulante war Sigruns Sache nicht. Selbst im für den Ottonormal-Looser üblichen hochnot-ambulanten Camping-Ambiente konnte sie keineswegs auf die einfachen Freuden von Kaffeevollautomat, Mikrowelle, Satellitenantenne, Sets und Servietten verzichten.
Als sie Ludger eines Tages in ihrer Küche beim ambulanten Essen erwischte, bekam sie einen Nervenzusammenbruch und musste zwei Wochen lang hochdosierte Psychopharmaka einnehmen. Ludger legte daraufhin diese Methode der Nahrungsaufnahme aus Sicherheitsgründen gänzlich ab.
Na, da passte ja alles ganz wunderbar zusammen!
Ludger zog zu Sigrun, die Wohnung wurde verkauft, unsere WG-Zeit war zu Ende.