Sonntag, 5. Januar 2014

Nachbarn


Nachbarn hatten wir, als ich Kind und Jugendlicher war, wie Sand am Meer. Es geht um den Zeitraum "Ende der 60er" bis "Mitte der 80er". Nachbarn wohnten quasi in jeder Himmelsrichtung (incl. "oben"). Für meine Eltern war das eine richtige "Nachbarschaft". Für mich und meinen Bruder handelte es sich bei der Ansammlung von (i.d.R.) niederträchtigen, tratschenden, widerlichen Waschweibern um ein Pandämonium!
Hier wurde man 24/7 bespitzelt! Diese Nachbarn waren der Feind!


Frau Wörner, die bei uns im Haus wohnte, war ein prototypischer Hausdrache. Sie führte sich auf, als gehöre ihr der Laden, Grund: sie wohnte ja mit ihrem Mann bereits seit dem Krieg in der gleichen Zweizimmer-Butze ohne Bad. Dies schuf den hinreichend royalen Hintergrund, um sich aufzuführen wie Thurn & Taxis feat. Else Kling (Link). Der Gatte (Willi), der über 50 Jahre urst brutal unter dem Pantoffel gestanden hatte, eman(n)zipierte sich nach seinem Schlaganfall für alle überraschend. Am überraschtesten war wohl die Gattin selbst, denn Willi bekämpfte den alten Drachen notfalls auch mit der Bratpfanne - strike! Ein ganz wunderbares Beispiel dafür, dass Karma zum Bumerang werden kann.

Teskes: Das Ehepaar Teske hatte bis Anfang der 80er eine PIMPI-Tankstelle genau gegenüber von unserem Haus. Als Kind stellte ich mir immer vor, dass sie eines Tages explodiert wie bei "Die Vögel" und alles im Umkreis den reinigenden Flammen übergeben wird. Vorher machte die Tankstelle mit den zwei Zapfsäulen und dem 2,88 m² Verkaufsraum indes dicht. Da Willi Teske es gewohnt war, immer alles im Blick zu haben, schwebte von jetzt an sein von Krankheit madenartig aufgedunsener Schädel wie ein fahler Ballon hinter dem Fenster im ersten Stock. Wann immer wer-auch-immer zu Hause ankam oder das Haus verließ, allzeit verfolgte ihn der geisterhafte, blasse Maden-Ballon -- buchstäblich wie der Fluch in einem japanischen Horrorfilm.

Der Metzger. Wie im Film "Delicatessen" hatte der Metzger keinen Namen, er wurde nur "der Metzger" genannt. Der gekachelte Verkaufsraum war etwa so groß wie eine kleine Eisdiele und hatte eine Mörder-Akustik. Das hinderte den allzeit rotgesichtigen Fleischerei-Fachverkäufer nicht daran, stimmlich jederzeit alles zu geben: Der Kunde an sich wurde mit überbordender Freundlichkeit in Grund und Boden gebrüllt: "JAAA!!! UND AUSSERDEM??? NOCH ZERVELAT??? JA!! GERNE, SEHR GERNE!!!... UND AUSSERDEM??? " Mein jüngerer Bruder beschloss eines Tages aufgrund seines großen Unbehagens, dort einfach nicht mehr hinzugehen. Dies geschah sehr zum Leidwesen von Queen Mom, die ihn jetzt nicht mehr schicken konnte! Großer Gott!! Von nun an musste sie (sofern sie meiner nicht habhaft werden konnte) im Notfall die 30 Meter zum Metzger SELBER GEHEN (Google Maps). KRAISCH!!! Soo viel Elend!!!

Familie Mahd: Herr Mahd war Metzger, aber arbeitetet nicht in der Metzgerei, über der er wohnte. Das fanden wir schon als Kinder sehr verdächtig. Herr M.s Haare waren wohl nicht zu bändigen, deshalb versuchte er es gar nicht erst. Einen Ölwechsel hätten sie auch dringender nötig gehabt als irgendwas, was nicht lecker aussah. Später machte der Herr von sich reden, weil er sich bei kleineren Lebensmittel-Diebstählen in der Innenstadt hatte erwischen lassen, was den Tratschenden und Hetzenden in der Nachbarschaft Kaiserstunden mit Schaum vorm Maul bescherte. Frau Mahd war ein Breitmaulfrosch alter Schule. Wenn im Sommer die gesamte Familie M. (incl. des schurkischen Mike und der quäkenden Anja) den Balkon bevölkerte -- jede Minute davon war RTL II für die Nachbarschaft, lange, bevor es die Privaten überhaupt gab. Unterhaltung von Schwachköpfen für Schwachköpfe.

Familie Decker: hatte eine kleine Firma "Extrusionstechnik" in der Nachbarschaft. Niemand konnte sich so recht etwas darunter vorstellen, die Deckers vielleicht auch nicht, denn sie gingen nach einer Weile pleite. Queen Mom war der Meinung, dass die fahle Tochter der Deckers (sie hieß glaube ich "Talg") ein hochreizendes Geschöpf sei, welches als potentielle Schwiegertochter keinesfalls abgewiesen werden würde. Bruder und ich waren entgegengesetzter Meinung: wir simulierten hinter ihrem Rücken "Erbrechen".

Das Nicht-bürgerliche Lager:
Herr Gilch hatte zwei Dutzend Mal am Tag Besuch, der nicht mal fünf Minuten blieb. Verkaufte dieser Typ etwa Drogen? Vom merkwürdig eingefallenen Gesicht her hatte dieser Händler mit seltenen Substanzen schon öfter Rohrfrei geschnupft, als in einem ökologisch-dynamischen Haushalt eine Nasendusche zum Einsatz gekommen war. Mehrere Polizeirazzien incl. Drogenhunden sorgten vergeblich für Wirbel und wochenlang für Gesprächsstoff. Die völlig arglosen Vermieter des Herrn wurden von der sog. Nachbarschaft in Sippenhaft genommen und ebenso mit Acht & Bann belegt wie Rohrfreigesicht, der Dealer. Fair geht eben vor in der Nachbarschaft.
Familie Zeisig waren ein komplementäres Paar: Er war groß, hager bis zur Auszehrung mit eingefallener Brust und flammend rotem Haar, sie war klein, dick und straßenköterblond. Parterre wohnend und ohne Gardinen zeigten sie der ganzen Nachbarschaft bei Festbeleuchtung, wie viel Spaß man bei "Hasch mich, ich bin der Frühling" haben kann -- natürlich nackt. Gerade die, die seit 30 Jahren keinen Sex mehr gehabt hatten, redeten sich das Maul schaumig.
Frau Breitenstein war mit weit über 70 eine Quartalssäuferin wie sie im Buche stand. Sobald sie den Sozialamts-Scheck in Händen hielt, gab sie mal so richtig Kette. Die Heimkehr aus der Innenstadt, die gebrochene Reval ohne Filter auf der Lippe, verlief meist in einem Zustand forcierter Ungeordnetheit. Die Wocheneinkäufe, waren oft auf mehrere 100 Meter Nachhauseweg verteilt (wie die Trümmer eines gecrashten Flugzeugs), das Gebiss fand sich in der Regel auf dem Hof wieder - "oben" hier, "unten" da. Manchmal schlief sie auf der Gartentreppe. Frau Breitensteins Sohn, der Dauer-Alk, zog praktischerweise in das Männerwohnheim gegenüber vom EDEKA.
Männerwohnheim: Einst ein ehemaliges Kohlelager wurde es in eine Heimstatt sozial schwacher Männer ab Mitte 40 umgebaut. Jetzt wohnten hier Herren, deren erste Prioritäten nicht Körperpflege oder ein weltmännisches Auftreten waren. Oft kam es zu Schlägereien um die letzten Tropfen Spiritus oder weil jemand ins falsche Zimmer gekotzt hatte. Der Krankenwagen war ein oft gesehener Gast. Im Zuge solcher Konflikte hatte auch jemand den Sohn von Frau Breitenstein erschlagen. Die Polizei ermittelte und ermittelte, aber da quasi jeder der sturztrunkenen Bewohner infrage kam, sperrte man am Ende den ein, der den Stift halten konnte, um das Geständnis zu unterschreiben.

Der kleine 45 m²-EDEKA auf der anderen Straßenseite direkt neben der Post war das Zentrum allen Tratschs, hier liefen am Ende alle Fäden zusammen. Horst und Ulrike Jevers waren die NSA der Nachbarschaft, die Spinne im Netz. Im Grunde reichte es ihnen schon lange nicht mehr, nur zufällig Tratsch zugetragen zu bekommen. Nein, da, wo sie Wissenslücken hatten, begannen sie, ihre Kunden gezielt auszufragen. "Wie konnte Frau Heringer denn stürzen?", "Was soll Herr Mahd denn gestohlen haben?", "Warum stand gestern der Krankenwagen in Höhe der Hausnummer 141?"
Im Grunde waren alle Nachbarinnen hier Stammkunde, steuerten mit weit aufgerissenen Augen und von der Geschwindigkeit verschwommenen Mäulern die neuesten pikanten Details zu jedem noch so belanglosen Tratsch bei.
Wenn wir als Kinder von Muttern dort hin geschickt wurden, dann mussten wir uns allzeit einem peinlichen Verhör unterziehen. Widerstand war zwecklos: Man bekam einfach so lange seinen Kassenbon und das Wechselgeld nicht ausgehändigt, bis alle Fragen zur Zufriedenheit beantwortet waren. Ein Fegefeuer, nicht nur für Kinder, denn die beiden Jevers begannen auch nach guter, alter, christlicher Tradition manche ihrer Kunden aufgrund der Vielzahl unbestätigter Gerüchte wie Scheiße zu behandeln.
Zum Ausgleich gingen sie Sonntags in die Kirche.


Wann immer ich heute zum Haus meiner Mutter oder Tante komme, dann spüre ich die observierenden Blockwart-Blicke noch immer in meinem Nacken prickeln, obwohl fast niemand meiner ehemaligen Nachbarn noch am Leben ist.
Das Unwohlsein bleibt vermutlich für immer.



Siehe zu den "Jevers" auch: Blogbeitrag, mehr "Nachbarn": Blogbeitrag