Donnerstag, 16. Juni 2016

35.000 Jahre Musik

photo credit: Bob Moog fan art via photopin (license)
Schon früh kam ein haariger Zeitgenosse auf die Idee, mit einem Stock auf einen Tierschädel zu schlagen. Der Pock-Pock-Pock-Rhythmus kam gut an beim ersten Publikum, er lag ihm im Blut wie der Herzschlag der Mutter, in der sie neun Monate lang herangereift waren. Einer blies auf einen Röhrenknochen und ein Weiterer ratschte mit einem menschlichen Unterkiefer auf einer großen Nuss herum. Hier und da machte jemand Tier-Laute nach. Die erste Pop-Band.
Im Hintergrund tauschte jemand vergorenen Fruchtsaft gegen Muscheln.

Mit der Zeit wurden die Instrumente raffinierter: Tierhäute wurden aufgespannt, der Rhythmus machte nun nicht mehr Pock, sondern Bumm. Der getrocknete Darm eines katzenartigen Tiers an einen trockenen Ast als Resonanzkörper gespannt gibt Summ-Summ-Summ den Bass. In den Röhrenknochen eines Schwans werden Löcher gebohrt, eine frühe Flöte. Dazu singt der Schamane die Schöpfungsgeschichte.

In den ganzen letzten 35.000 Jahren wurde zwar wieder und wieder an den Details gefeilt, aber im Grunde blieb alles beim Pock-Pock und Summ-Summ und Klim-Klim: Holz, Tierhaut, Katzendarm und Haar vom Pferdeschweif für den Geigenbogen, etwas Metall hier und da. Ob man nun in einen Röhrenknochen bläst oder eine Piccolo-Flöte aus Metall zu Munde führt, das Prinzip ist das Gleiche. Nur die "Piccolöchen" in der Pause sind Welten entfernt von mit Spucke vergorenem Birnensaft.

Als dann 1964 der erste Synthesizer auf der Bildfläche erschien, war das für die Musik genau so ein Schock wie die Technik der Fotografie für die (ab)bildende Kunst: Robert Moog präsentierte den ersten spiel- und konfigurierbaren modularen Synthesizer. Das von Walter Carlos komplett auf diesem Gerät eingespielte Album Switched-On Bach (1968) wurde zum „meistverkauften Album klassischer Musik“ dieser Zeit. (Bitte den vorhergehenden Satz noch einmal sorgfältig lesen.)
Im Grunde ist damit alles gesagt.

35.000 Jahre alte Methoden der Klangerzeugung sind nun obsolet.

Wer noch heute, im dritten Jahrtausend, auf Tierhäuten herumdrischt oder gefühlvoll an Katzendarm zupft, Schädel aneinender schlägt, manisch mit Kalebassen rasselt und in Röhrenknochen tutet, dieser Mitmensch steht sowas von dramatisch auf verlorenem Posten. Die Erzeugung manuell-analoger Musik ist nur noch überkommenes Brauchtum, ein trotziges "Kunststückchen machen", ein Ringelreihen & Hopsasa von ewiggestrigen Hinterbliebenenverbänden in Anbetracht der Möglichkeiten der Synthese von Geräuschen in der Moderne.
Gleiches gilt für die, die diese Musik dann hören.

Wer mich hier für allzu radikal hält, der darf mir gerne seine Kritik von einem Post-Archaeopterix auf Tontafeln zukommen lassen.