Dienstag, 20. März 2018

ru24 History: Mit dem Auto in den Urlaub fahren (1981)

photo credit: tonylanciabeta Retro Cars  Retro Ford Magazine Track Day Brands Hatch 22nd July 2009  IMG_9411 via photopin (license)

Es begann bereits eine Woche vor Urlaubsbeginn. De Mutter ließ den Vatter die Koffer von ganz oben aus der Abstellkammer holen. „Die Koffer“ waren aus etwas rissigem Kunstleder und in den Farben Schlammbraun und Schwarz, zwei waren weinrot. Aufgrund ihres nur mäßigen Wiedererkennungswertes im Falle einer Flugreise waren sie an einigen Stellen mit roten, kreisrunden Fahrradreflektoren beklebt. Nun standen sie also geöffnet auf dem Boden als Schikanen im Wohnungsflur und Elternschlafzimmer herum und wurden von QM peu à peu und vor allem mit viel Seelenruhe befüllt: Hier mal ein paar T-Shirts, da ein paar Shorts, Rei in der Tube, Schlüpper, Nagelnecessaire, Pflaster usw. Die Katze namens „Katz“ inspizierte die Gepäckstücke ab jetzt regelmäßig und machte von Zeit zu Zeit ihre Nickerchen in ihnen. De Vatter wurde von QM abends turnusmäßig befragt, was er denn an Kledage in den Urlaub mitzunehmen gedenke. Doch diesem Thema stand er grundsätzlich unverständlich ablehnend gegenüber, so brach er jede Befragung ab, als reiche ihm allzeit die Kleidung, die er am Leib trug. Also packte QM für ihn seufzend lediglich ein wenig mit ein. Theoretisch hatte natürlich jeder von uns vier einen eigenen Koffer, aber praktisch hatten wir jeder nur knapp über einen halben Koffer und QM hatte derer zwei. Zusätzlich zu den Koffern sammelten sich noch eine mächtige Reisetasche aus vage ockerfarbenen Kunstleder, Mutters beige Handtasche, diverse Stoffbeutel mit Schuhen, Jacken und Kleinkram wie Kinder-Flugdrachen, der den Wohnungsflur mehr und mehr zusetzte wie eine von Plaque immer enger werdende Herzarterie.

Am Abreisetag holte der Vatter nach dem Frühstück den Wagen aus der Garage. Er wird bereits ein mulmiges Gefühl in der Magengrube gehabt haben, denn diese Hekatomben an Plunder würden nie und nimmer in den Wagen passen! Der frisch gewaschene, inspizierte, kreidegelbe Granada stand nun in der Einfahrt, alle vier Türen, Schiebedach und die Kofferraumklappe geöffnet und Vatter hastete schweigend und mit zusammengebissenen Zähnen von Wohnungstür zu Kofferraum, um ächzend die Polinten zu verstauen. Manchmal stand er sinnierend vor dem Ford, die Arme an den Handrücken in die Seiten gestemmt, dann wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn, nestelte nach der Packung Camel in seiner Hemdtasche und rauchte, oder begann, bereits Gepacktes kopfschüttelnd wieder auszuräumen. Währenddessen zauberte QM noch weiteres Reisegepäck aus Wohnzimmer, Abstellkammer oder Bad hervor, welches Vatters ohnehin hochfragile Kalkulationen am offenen Kofferraum grausam zunichtemachte. Die Stimmung war bis zuletzt immer sehr angespannt, bis letztendlich aller Plunder und die Fahrgäste verstaut waren.

Irgendwann war es so weit: Die Operation galt als gelungen, wenn der Kofferraumdeckel beim fünften Versuch tatsächlich zu ging. Wir Kinder saßen hinten auf der Rückbank, meist noch mit reichlich Gepäck und Kühltasche zwischen uns, den Fußraum vollgestellt, die Hutablage dermaßen vollgestopft, dass der Rückspiegel für die Dauer der Fahrt nur Deko sein würde. Endlich war es soweit: Von Radevormwald aus ging es häufig über Halver, Kierspe, Meinerzhagen auf die sogenannte „Sauerlandlinie“ (A45).
a) Bereits bis Meinerzhagen dauerte die Fahrt eine verdammte Ewigkeit!
b) Ich habe übrigens diese „Linie“, die ich mir immer wie eine auf die Landschaft aufgepinselte Äquatorlinie vorgestellt habe, nie zu Gesicht bekommen. Stattdessen gab es ausschließlich öde, endlos-selbstähnliche Autobahnkilometer. Was für ein erbärmlicher Etikettenschwindel. Kein Wunder, dass diese sogenannten Sauerländer so hießen!

„Sind wir bald da-haa?“, schrien die Kinder im Chor.
„Es ist schon da hinten!“, wies de Mutter auf einen imaginären Punkt irgendwo am Horizont.
De Vatter steckte sich erst mal eine an.
Ob QM eine Karte lesen konnte, habe ich nie erfahren. De Vater hatte wie ein Kranich ein eingebautes Navigationssystem, ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns je verfahren hätten. Aber vielleicht ist genau das der Trick: Wenn man sich verfährt, einfach mal die Schnute halten.

Im Auto selbst gab es mehrere, sehr mächtige Faktoren: 1) Die Stimmung war schon per se angespannt, also nicht so dolle. 2) Mein kleiner Bruder Frank und ich waren fünf Jahre auseinander und keine Fans voneinander. Das gab ständig Streit um nichts aus dem Nichts. 3) Eine Anschnallpflicht auch „hinten“ gab es erst ab 1984, aber Muttern setzte diese bereits mit dem Auftauchen des ersten Gurtes an der Rückbank in den Jahren vorher rigoros durch — ade paradiesische Zustände! Die Gurte schnitten uns in den Hals, wären im Falle eines Unfalls Todesfallen gewesen und fixierten uns gleichzeitig in unseren Ecken wie Fliegen an einem Fliegenfänger. Sitzerhöhung, Kindersitze oder Gurtpolster waren damals noch Science Fiction. 4) De Vatter, ein passionierter Raucher, quarzte sich während einer Tagesfahrt gut & gerne mal seine 50 bis 60 Kippen „Camel ohne Filter“ weg. QM verinhalierte in der gleichen Zeit vier „Lord Extra“. 5) Queen Mom, die obwohl sie ein Halstuch trug, ständig Zug im Nacken bekam, verbot aufgrund dessen das Öffnen von Seitenfenstern, Ausstellfenstern und Schiebedach — auch nur einen Spalt breit — vollständig für die Dauer der gesamten Fahrt.

„Sind wir bald da-haa?“, schrien die Kinder im Chor.
„Es ist schon da hinten!“, wies de Mutter auf einen imaginären Punkt irgendwo am Horizont.
De Vatter steckte sich erst mal eine an.

Wenn wir Kinder also nicht gerade wegen nichts oder irgendeinem Scheiß stritten, gerieten wir aufgrund des Zigarettenrauchs mangels Lüftung regelmäßig in toxische Todeszonen, die unsere Körper mit reichlich Übelkeit konterten. Was hatte ich als kleines Kind gekotzt wie ein Reiher! Aber jetzt wurde uns wenigstens nur noch übel. Meine Mutter, die lebenslang keinerlei Zusammenhang sah zwischen Rauch und Kinder-Übelkeit, empfahl uns allzeit sehr eindringlich, während der Autofahrt „immer schön nach vorne auf die Straße zu schauen“. Es gibt, glaube ich, bis heute, kaum etwas Langweiligeres als diese endlosen Autobahnkilometer! Aber trotzdem blinzelten wir, der Empfehlung folgend, stundenlang mit tränenden, zusammengekniffenen Augen durch den Smog nach vorne, wo seinerzeit noch große Mengen Insekten auf der Windschutzscheibe zerplatzten und ihren semitransparenten Schleier des Todes hinterließen.

Dann endlich Mittagszeit, ein Rastplatz! Der Wagen wurde randvoll mit dem guten Super verbleit betankt, dann ein Tisch mit Bänken gesucht und die Kühltasche aus dem Auto gewuchtet. Von orangefarbenen Papptellern spachtelten wir neben dem knackend auskühlenden Wagen Mutters Kartoffelsalat mit am Abend zuvor gebratenen Frikadellen! Meine Güte, das entschädigte für Vieles!

Die Fahrt in den Urlaub in Richtung war für uns Kinder endlos, lähmend, toxisch! Aber Meer, Sand und Sonne (alternativ: Berge, Almen & Bauernhof — „Ich will Kühe!“) entschädigten dann auf der Stelle für alles.

In der Regel hatten wir einen Bungalow mit Küche und Muttern bekochte uns jeden Tag mit aus der Heimat mitgebrachten Lebensmitteln, die dann immer aus lokalen Supermärkten wieder aufgefüllt wurden. Umso aufregender, wenn wir mal ein Restaurant aufsuchten! Essen zu gehen war so exotisch für uns Kinder, dass ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit reflexartig Wiener Schnitzel mit Pommes frites bestellte.

Klassischen Sonnen- bzw. Strandurlaub gab es bei uns so gut wie nicht. Selbst bei hochsommerlichen Temperaturen machten wir sehr häufig Touren, besuchten Sehenswürdigkeiten, de Vatter machte die Fotos dazu. Schon aus Frack trug er den ganzen Urlaub lang mehr oder weniger ein und dieselbe verblichene Jeans-Shorts mit selbst abgeschnittenen Beinen — er hatte ja auch nicht viel. De Mutter wechselte ihre Kleidung ständig, denn hier konnte jemand aus den Vollen schöpfen.

An Strandtagen bekamen wir ein- bis zweimal täglich eine Ganzkörpereinreibung mit einer Sonnenmilch mit damals als „hoch“ geltenden Lichtschutzfaktor 16 und gut war. De Vatter, der dem Thema „Sonnenschutz“ grundsätzlich eigenartig ablehnend gegenüberstand, verweigere sich trotz Halbglatze völlig und sah dafür wochenlang aus wie ein Spanferkel auf dem Grill — inklusive Kruste.

Aber auch der schönste Urlaub geht einmal zu Ende. Nun stand uns Kindern wieder die endlose, lähmende, toxische Rückfahrt ins Haus. Ausufernde deutsche Autobahnbaustellen mit rhythmisch blinkenden, gelben Lichtern machten aus der späten Heimkehr oft eine Stau-Nacht mit hypnotischer Lichtshow, als deren Zentrum man sich selbst wähnte.

„Siegen!“ (alternativ: „Gießen!“), knurrte de Vatter, der seit 18 Stunden hinter dem Steuer saß.
„Sind wir bald da-haa?“, schrien die Kinder im Chor.
„Es ist schon da hinten!“, wies de Mutter auf einen imaginären Punkt irgendwo am Horizont.
De Vatter steckte sich erst mal eine an.
Wir Kinder schliefen irgendwann ein.


Gottlob flogen wir auch häufig in Urlaub. Aber selbstverständlich saßen wir da im Raucherabteil des Fliegers — wir kleinen Vögel wären sonst noch völlig entwöhnt worden oder hätten Hubba-Bubba-Nikotinkaugummis kauen müssen.