Mittwoch, 1. Juni 2011

Nachbarn

Eine Kollegin gestand mir letzten Montag, dass sie, egal, wie lange sie die Nacht vorher gefeiert habe, Samstags oder Sonntags spätestens um 9.15 Uhr die Rollläden hochziehe, damit ihre Nachbarn nicht denken, sie schlafe bis in die Puppen.
Autsch!
Das ist durchaus diskutabel... .

Während meiner Kindheit hatte ich dramatisch mehr Nachbarn als mir lieb war. Denn obwohl ich im Westen Deutschlands aufgewachsen bin, waren die Nachbarn fast alle bei der Stasi. Ihre fahlen Visagen klebten ständig an den Innenseiten der Fenster ihrer Wohnungen wie leichenblasse Ballons.

Hätte ich als Jugendlicher ein Tagebuch geführt, ich könnte heute folgendes darin finden:
22.05.1985
Stehe vor dem Haus Ich warte auf Michael. Der Himmel hat sich weiter zugezogen. An den in Abständen zuckenden Gardinen der umliegenden Häuser kann ich sehen, dass ich von dem neugierigen Pack beobachtet werde.
Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge. Sicher werden Werbegeschenk-Abreißblöcke aus der Apotheke mit Beobachtungsdaten gefüllt. Oben steht so etwas wie "Ixofloxo retard – stark gegen Altersdemenz und Harndrang", darunter steht in gestochener Sütterlin-Handschrift, noch in einer Nazi-Kaderschmiede eingepaukt: "16.00 Uhr. Nachbarsjunge, viel zu lange Haare, Kleidung unseriös. Hat eine billig aussehende Tasche dabei. Steht vor Hausnummer 141." Später dann: "Bewegt sich nicht weg. 16.05 Uhr: Alter, gelber Opel Ascona hält, äußerst langhaariger Fahrer, vermutlich Bombenleger. Zielperson steigt ein."
Nachbarn, das sind die Leute, die jederzeit bereit sind, jeden Schwachsinn über ihren Nächsten zu glauben, so lange es nur keine positiven Nachrichten sind. Nachbarn, das sind die Leute, die meine Eltern nicht mehr grüßten, nachdem es in deren Haus bei einem Mieter zwei Drogenrazzien gegeben hatte. Nachbarn, das sind die Leute, die meinen Eltern nicht erlaubten, in ihrem eigenen Garten ein Gartenhäuschen "auf der Grenze" zu errichten - man wolle das nicht, wegen der Erben. Nachbarn, das sind die Menschen aus "Was sollen die Nachbarn denken?"

Die Nachbarn meiner Kindheit haben alles mögliche getan, nur eines war nicht dabei: Denken.

Also, liebe, werte Kollegin: Schlaf dich mal richtig aus, dann dreh' dich einfach noch einmal um! Reiße um 16:30 Uhr mit lauten RRRAPSSS-BAZONGGG!!! die Rollläden nach oben, öffne das Fenster und brülle: GOOOD MORNING, VIETNAM!!!
Lass es rocken!
Es ist dein Leben.

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