Gemeinhin weiß ich "Heimat" nicht allzu sehr zu schätzen. Die grünen Hügel des Bergischen Landes, malerische Fachwerk- und Schieferhäuser mit grünen Schlagläden, Wald, Feld und Flur - ja! Fein, fein! Nur...
Doch ach! Leben pulsiert anderswo...
Nun, es gibt auch lieb gewonnene Highlights...
Heute will ich von einem solchen berichten: dem "Spezialitätenrestaurant Stadtgraben" in 42477 Radevormwald. Es ist im Stadtkern in der Grabenstr. 8 angesiedelt und liefert seit Menschengedenken Balkanküche zu moderaten Preisen. Manchmal glaube ich, dass die Stadt Radevormwald diesem Restaurant die erste urkundliche Erwähnung Anno 1050 verdankt: Man fand ein duftes Balkanrestaurant vor, das Lustigen Bosniak mit Duvecreis feilbot und hat die Siedlung dann einfach drum herum gebaut - logisch.
Soviel zur Geschichte.
Von Außen eher unscheinbar und schmiedeeisern, ist es von innen vor allem eins: eine Zeitreise in die 80er. Brachiales Eichenfurnier-Pseudorustikalmobiliar, gepolsterte Sitzecken, Kunststofftischdecken, Wagenraddeko und unfassbar kolossale Trockenblumenbuketts aus vor Jahrzehnten in Kitschfarben eingefärbten Gräsern lassen das Auge herumirren, bis man an einem der schwarzen Balken hängen bleibt. Das es solche Läden noch gibt! Wenn man reserviert oder einfach Glück hat, bekommt man sogar einen Sitzplatz, hat die Gelegenheit, die Lokalität weiter sinnlich zu erfassen, zu begreifen.
Wenn man über das bucklige Kleinstadtpublikum hinwegsieht, schneidet einem dafür die dort gespielte Musik in die Trommelfelle wie ein Teppichmesser. Was der seit mindestens Ende der 80er in die Wand eingemauerte Cassettenrecorder auf Auto-Reverse spielt, kann nur eine Best of "Die Flippers" von 1989 sein. Es werden Hits feil geboten wie: Nur mit Dir allein (1970), Komm auf meine Insel (1974), Die rote Sonne von Barbados (1986), Nur wer die Sehnsucht kennt (1986), Malaika (1987) und Arrivederci, Ciao Amor (1988). Bevor man wahnsinnig wird, läßt der gute Duft der Balkanküche den Magen knurren, schnell erinnert man sich an den Grund des Besuchs!
Ein eher kleiner, einsilbiger Mann, das runde Gesicht hat einen slawischen Einschlag, materialisiert sich neben dem Tisch, meinen Recherchen zufolge muss das Herr Radomir Gutic sein. Er trägt schwarze Hosen und Weste, dazu ein weißes Hemd, die glatten, dunklen Haare sind gescheitelt. Vor 30 Jahren sah er schon genau so aus, ein Phänomen! Er kaut einige Laute hervor, die man der Erfahrung nach als Frage nach Getränken interpretieren kann, man bestellt folglich etwas zu trinken, erhält dafür ein freundliches und gedehntes Knurren als Antwort. Nach dem Abgang der Bedienung hat man Zeit die Vollplastik-Karte zu studieren: sie birgt keinerlei Überraschungen. Chevapchichi, Leber, Steak, Reis, Pommes, Salat - nun, Balkanküche eben. Überrascht hätte mich indes Ente mit acht Kostbarkeiten.
Die Getränke kommen, die im Folgenden hervorgebrachten Laute kann man getrost als Frage zur Essensbestellung interpretieren. Mit Bärbel, mit der ich jahrein, jahraus den Laden besucht habe, gab's keine Abweichung von der Regel: Sie bestellte die Chavapchichi, ich die Balkanleber.
Vor dem Essen erscheint ein Salatteller. Der ist seit Bestehen der Trockenblumendeko identisch mit allen je servierten Salattellern: ein etwas konfuses Geshredder aus Möhren, Gurke, Rote Beete usw., ertränkt mit einer völlig unzeitgemäßen Cocktailsauße Anno 1989. Aber irgendwie ist es OK.
Kurzum, flott, flott, erscheint das Hauptgericht: prachtvoll gefüllte Teller - man wird nicht Hungers leiden müssen und auch für den Cholesterinspiegel ist mehr als gesorgt! Nun kann der Fuchs mit der Begleitung noch ein oder zwei Chevapchichi gegen ein Stück Leber tauschen und schon hat jeder Esser einen Balkanteller!
Wenn man alles vertilgt hat, stellt man fest: Es war wunderbar! Wohlig lässt man sich zurücksinken. Bei den Weight Watchers hieße das jetzt: "Der Kandidat hat 99 Punkte!"
Beim Zahlen stellt man fest: Es ist auch in 2009 noch möglich, dass zwei Personen für unter 30,00 EUR aus essen gehen können!
Verläßt man dann das "Spezialitätenrestaurant Stadtgraben" wieder in Richtung Realität, trifft einen die Moderne wie ein Schock.