Samstag, 27. Oktober 2012

ru History 40 - Großvater Scrooge (1982)

goo.gl/oiFmv
Als ich (als Erwachsener) erstmalig Dickens' Weihnachtsgeschichte (A Christmas Carol) las, und Scrooge als "hart und kalt wie ein Kiesel" beschrieben wurde, da kam mir unwillkürlich ein "Och, de Oppa" in den Sinn.
Gemeint ist mein Großvater Heinrich.
Geboren 1900 (Weltausstellung in Paris, Eiffelturm), als die Titanic sank war er 12, für den ersten großen Krieg war er zu jung, für den zweiten großen Krieg fast zu alt.
Zeitlebens wurde er "de Oppa" genannt. Das lag daran, dass er mit "de Omma" verheiratet war, dadurch begegnete man sich notgedrungen.
De Oppa war ein spektakulärer Esser (Blogbeitrag) und seine Nickerchen konnten sich sehen lassen (Blogbeitrag). Falls ihr das noch nicht kennt, bitte unbedingt lesen!

De Oppa war ein Mann von eisenharten Prinzipien. Was man flicken konnte, wurde geflickt. Was man selber bauen konnte, wurde gebastelt. Wie viel Zeit jeweils darauf verwendet wurde, war allzeit zweitrangig, ganz so, als sei Lebenszeit völlig wertlos, nicht in Geld aufzuwiegen. Eine Mark gab er nur aus, wenn er sie so oft herumgedreht hatte, dass seine Finger metallisch schimmerten. Als seine beiden Mädchen noch klein gewesen waren (30er Jahre), hatte er für die Weihnachtsgeschenke der beiden aber auch schon mal 50 Pfennig springen lassen. Da hatte er wohl seine Spendierhosen angehabt an dem Tag.
Ich fand immer, dass "Geiz" ein viel zu schwaches Wort dafür war, es nicht so recht traf, denn de Oppa grüßte ja sogar nur äußerst sparsam.

Gegen zappelnde (= lebende), plappernde (= kommunizierende) Kinder (moi) hatte mein Großvater ein Allheilmittel: Däumchendrehen. Ich wurde als kleines Kind dazu verdammt, schweigend am Tisch zu sitzen und mit gefalteten Händen Däumchen zu drehen. Meine geheime Superkraft "Ruhe ausstrahlen" entwickelte sich also schon ganz früh.
Kartenspiele waren für ihn "des Teufels Gebetbuch" und Dinosaurier negierte er nur als "Sau-Dier", da die "Schöpfungsgeschichte binnen sieben Tagen" solche nicht vorsah.

goo.gl/HHhAK 
Gottlob grofelte de Oppa bis zu seinem Ableben 1982 die meiste Zeit in seiner Werkstatt herum. Diese Werkstatt war Teil eines Betriebes, der seine letzten Investitionen in den Kriegsjahren und seine besten Tage während des Wirtschaftswunders gesehen hatte. Seitdem waren Maschinen, Vorrichtungen und Werkzeuge in dieser teerpappegedeckten Butze nur noch behelfsmäßig geflickt und zurechtgedengelt worden. Dies war ein lichtarmer Ort, angefüllt mit Geistermaschinen und Maschinengeistern, ein rostiges, spinnenwebiges und staubiges Imperium der Schatten, antik in jedem seiner glanzlosen Details.

Aber irgendwie bin ich als Kind auch oft genug dort gewesen, um das Wesen dieses Ortes in mir aufzunehmen. Vielleicht erklärt das meine heutige Affinität zu Verderb, Niedergang und Zerfall (in "Haunted-Hill-Optik"). Auf vielen meiner Flickr-Fotos kann man die kalte, tote Hand meines Großvaters sehen, erhoben zu einem sparsamen Gruß: flickr