Montag, 30. April 2012

Heimat 19/History 37 - Hausbesuche (1976)

http://goo.gl/cWxU6 
Dr. Stavenhagen war ein HNO-Arzt nach dem Geschmack meiner Eltern: Er machte auch Hausbesuche.
Er war älter als Gott. Bei seinen Visiten parkte er grundsätzlich diagonal in der Einfahrt. Er war ein schrulliges, geschrumpftes Männlein, glatzköpfig, krumm, übersät mit Altersflecken. Die Augen waren ein trübes Hellblau auf dunklem Elfenbein, die Hände waren knotig. Es hieß, er trage von einer Kriegsverletzung eine Metallplatte im Kopf. Seine Stimme, die er wie eine Luftschutzsirene aus der Nase presste, mochte dies bestätigen.
Er führte einen schwarzen Arztkoffer mit sich, aus dem er ein Stethoskop und den Kopfspiegel fischte, allesamt rissige, mit Klebeband geflickte, angelaufene Artefakte aus vergangenen Tagen. Zumeist blieb es dabei, daß er mir mit einem eklig schmeckenden, hölzernen Spatel im Rachen herumfuhrwerkte, bis ich einen Brechreiz kaum noch unterdrücken konnte. Alternativ legte er mir die gichtige Hand auf die von Fieber heiße Brust, versetzte meinen Körper in Starre, um dann wieder zu verschwinden.
Wir Kinder sahen ihn oft, wir hatten uns auf Mittelohrentzündungen spezialisiert - ein "hausgemachtes" Problem in einer Familie, in der beide Eltern rauchten (mehr Info).

Einmal nasaldröhnte Dr. Stavenhagen mir gegenüber: »Spräch näch so dürch dü Nose!« (eine recht skurrile Situation, die zum Widerspruch einlud, aber er hatte ja Metall im Schädel...). Er überredete meine Eltern, dass meine Polypen entfernt werden müssten. So ging eines schönen Tages in 1978 Queen Mom mit dem elfjährigen ich zu seiner Praxis in der Ispingrader Str., Radevormwald. Die Sprechstundenhilfe war Frau Stavenhagen. Sie war nicht wesentlich jünger als der Gatte und trug als Insignien ihres Alters einen Haarknoten und ein grün-braun-gelb-geblümtes Sommerkleid. Sie saß an einem arg überquellenden Tisch.
Das angrenzende Wartezimmer war quadratisch, es wurde von einem einzigen Nordfenster mit Blick durch Tannen spartanisch belichtet. An der Wand stand ein verstimmtes Klavier. Die ausliegenden Zeitungen waren älter als ich.
Das Behandlungszimmer nebenan lag bis auf den Lichtschein einer 40 W-Schreibtischlampe im Dunkeln. Der Schreibtisch gab dem Wort »überhäuft« eine fantastische, völlig neue Dimension. Ich musste mich auf den Behandlungsstuhl setzen, der aussah wie ein elektrischer Stuhl ohne Elektrik. Der Doktor scharwenzelte unauffällig heran, während er meiner Mutter dies und das zutrötete und schlang angelegentlich einen Lederriemen um mein linkes Handgelenk und die Stuhllehne. Hallo? Kurz drauf war ebenso mein rechter Arm gefesselt. Lächelnd tropfte der Arzt eine Flüssigkeit auf ein Tuch und drückte mir das Ganze ins Gesicht - Äther!
Ich hatte eine sehr intensive, rein grafische, in Graustufen gehaltene Vision von langen, zweidimensionalen Pendeln mit unterschiedlich geformten Pendelmassen (Kreis, Quadrat, unregelmäßiges Vieleck). Sie »kämpften« pendelnd gegeneinander, das eine von rechts, das andere von links. Eines gewann immer wieder gegen alle Anderen, die Verlierer zerbrachen oder stoben davon.
Irgendwann kam ich wieder zu mir. Stavenhagen zeigte mir eine braune Bakelit-Nierenschale, in der blutiger Quabbel schwappte. Strahlend wies er auch auf den blutverschmierten Haken, mit dem er mir das Zeugs aus der Nase gerissen hatte.
Wir gingen, Mutter stützte mich. Im Wartezimmer saßen bleichesten Antlitzes diverse Patienten, sie starrten mich an wie eine Marienerscheinung.
Ich war arg heiser.
»Du hast die ganze Zeit über geschrien wie am Spieß!«, sagte Mom kurz drauf. Das erklärte die Blicke im Wartezimmer.
Ich hatte keinerlei Erinnerung an Schreie.

Hey: Warum sollte man seine Kinder einer zeitgemäßen, nicht-traumatisierenden Medizin aussetzen, wenn man hie und da auch Hausbesuche haben kann?


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