Sonntag, 26. August 1973: Oma ist an ihrer Geburtstagsfeier hypernervös, denn normalerweise lebt sie ja sehr zurückgezogen. Dabei muss sie gar nichts machen, den Job erledigt ja komplett ihre Tochter Waltraud. Die Erdbeer-, Stachelbeer- und Marmorkuchen sind gebacken, die Sahne ist geschlagen, der Tisch im Wohnzimmer ist gedeckt.
Das Wohnzimmer ist im wahrsten Sinne des Wortes die "gute Stube". Die Mitte des Raumes nimmt ein Mahagonitisch ein, dazu sechs passende Stühle. Der Tisch ist jetzt mit einer schweren Damast-Tischdecke bedeckt und mit 50er-Jahre-Porzellan mit zartem floralem Dekor eingedeckt. Würfelzuckerbehälter mit Silberzange. Milchkännchen. Porzellankaffeekannen mit einem Schwämmchen unterhalb der Tülle zum Auffangen von Rest-Tröpfchen. Das ganze Programm.
Die Gäste trudeln ein, mit ihnen Wolken aus 4711, Birkin Haarwasser, Uralt Lavendel und Mottenkugeln. Onkel Karl und Tante Adele erscheinen zeitgleich mit Onkel Franz und Tante Henny. Die greisen Gäste tragen schwere Wollkleidung in schwarz und grau und übergroße Jaruzelski-Hornbrillen und Hüte. Tante Henny finde ich wegen ihrer Hörgeräte total spannend. Meine Eltern, beide Mitte 40, erscheinen, haben meinen Bruder dabei, er ist eineinhalb und der Star der Veranstaltung.
Opa taucht auf. Ohne seinen verschlissenen Kittel, in Anzug und Weste, sieht er fremdartig aus. Es schellt wieder, Onkel Karl und Tante Käthe erscheinen. Noch mehr weiße Haare, noch mehr Hornbrillen. An der übervollen Garderobe hängen jetzt etwa 30 kg Mäntel, obwohl es Sommer ist.
Oma legt nochmal an Nervosität zu, sie sitzt am Kopf des Tisches. ihr Lid zuckt. Sie trägt ein formloses, schwarzes Kleid. Tante Waltraud ist ein hin und her huschendes Schemen, sie kocht Kaffee, brüht ihn in der Küche manuell auf. Kuchenstücke werden verteilt mit zierlichen, silberschnörkeligen Kuchenhebern. Die Sahne die Tante Waltraud produziert hat, ist so fest, dass sie sich kaum vom silbernen Löffel mit Schnörkelrosengriff löst und auf dem Kuchen mit einem satten Whopp! aufschlägt. Ich habe außerhalb dieser Realität niemals vergleichbare Sahne gesehen und gegessen.
Opa, stoisch und fast taub, ist so alt wie das Jahrhundert, er lächelt in die Menge, meint es aber nicht so.
Tante Waltraud holt Kaffe, wieder und wieder. Wenn sie sitzt, dann auf einem gepolsterten Hocker, so dass sie jederzeit aufspringen kann.
Mein Vater scherzt aus der Mottenkiste, es kommt sehr gut an. Mutter kichert dies begleitend ein wenig zu aufgesetzt.
Alte Leute lachen über 60 Jahre alte Geschichten.
Meine Eltern sind hier "die jungen Leute".
Mein kleiner Bruder, auf jemandes Schoß, brabbelt vor sich hin.
Onkel Franz der Unsympath, angeheiratet, ein ehemaliger Bahnbeamter, sabbelt irgendetwas Missgünstiges, seine Mundwinkel weisen wie immer nach unten. Seine Gattin Tante Henny regelt endlich etwas an ihren beiden Hörgeräten, so dass es pfeift.
Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe! Toll! Wie das schrillt! Aber leider gehen die wirklich großen Augenblicke einer Kindheit immer viel zu schnell vorbei!
Ich schaue mich im alten Wohnzimmer um und warte darauf, dass das schrille Pfeifkonzert wieder losgeht. Wenn man mit dem Fingernagel an die dünne Silberschale stößt, klingt der Ton ganz lange nach. Mit den Mini-Wäscheklammern, die die Servietten gehalten haben, kann man auch ganz passabel spielen.
Nach für mich endlosen Stunden ist alles vorbei.
In dem kleinen Flur ist Gewusel, die Herren helfen den Damen oldschool in die Mäntel, auch Onkel Franz, er hält Tante Henny den Mantel hin und sagt: "Da, du blöde Kuh!"
Henny, die nichts gehört hat, bedankt sich freundlich lächelnd.
Die Erwachsenen schauen sich stumm an.
Ich staune.
Darf der das?