Donnerstag, 1. April 2010

Heimat 17/History 10: Frau Stinder (1978)


Union Jack Vintage Linen
Originally uploaded by geishaboy500
Rock'n'Roll Realschule 3. (und letzter) Teil
5. Klasse, der erste Englischunterricht meines Lebens. Meine neue Lehrerin Frau Stinder ist bereits über 50, sie spricht nur englisch. Ihre Haare sind grau. Sie trägt karierte Kleidung im Grundton grün/braun, der Kragen ihrer gestärkten, weißen Bluse ist so scharf, mit ihm könnte man Schlagadern auftrennen - wenn ihr der Sinn danach stünde. Sie trägt überknielange, karierte Faltenröcke und blickdichte, fleischfarbene Strumpfhosen sowie beige Halbschuhe.
Frau Stinder, hat keinen Vornamen, die Worte "Frau-Stinder" sind eine untrennbare Einheit, die keinerlei Ergänzung mehr bedarf.
Da waren diese Learning-English-Workbooks, DIN-A4, rot (Klasse 5) und grün (Klasse 6), bis unter den Rand voller Grammatikspielchen, Lückentexten und Kreuzworträtseln, ganz, ganz dolle spannend für den Zwölfjährigen an sich.
Frau Stinder hatte einen bizarren Fetisch: Sie gab fast ausschließlich Hausaufgaben aus dem Workbook auf - und das nicht zu knapp - und niemals keine Hausaufgaben. Die Workbooks wurden in Phase 1 mit Bleistift geführt - wichtig! In der nächsten Englischstunde wurden die Hausaufgaben dann in der Klasse kontrolliert, die Korrekturen mit Radiergummi und Bleistift gemacht (Phase 2). War die ‘Lesson’ komplett abgeschlossen, wurden die Workbooks eingesammelt, Frau Stinder korrigierte dann mit grünem Stift (Phase 3) und teilte sie wieder aus. Die Schüler hatten nun die Korrekturen und alle anderen Texte mit Füller (blau) im Workbook nachzuziehen (Phase 4), die Fehler-Sätze mussten zusätzlich separat im Hausheft genau dreimal richtig geschrieben werden:
I shall not waste ink and paper and time.
I shall not waste ink and paper and time.
I shall not waste ink and paper and time.
Zum guten Schluss wurden die tintenkorrigierten Workbooks UND die Haushefte zur Endkorrektur eingesammelt und abermals korrigiert, diesmal in rot (Phase 5).

Natürlich gab es in dieser rigiden Kette mannigfaltige Möglichkeiten für zwölfjährige, nur so mittel disziplinierte Jungs, zu versagen, sei es,
1) die Hausaufgaben zu vergessen,
2) das Nachkorrigieren mit Bleistift zu vergessen,
3) das Nachziehen mit Tinte zu vergessen,
4) bei der Klassenkorrektur nicht richtig aufzupassen,
5) Bleistift nicht wegzuradieren "unter" dem Tintentext
6) Teile des Workbooks einfach freizulassen, obwohl die letzte Korrekturphase bereits abgeschlossen ist und an den leeren Stellen schon allein aus diversen Gründen mehrfach hätte etwas stehen müssen,
7) das Workbook zu Hause zu lassen, oder zu tun als ob,
etc., etc.
Mühlinghaus & Meskendahl waren die Namen, die Frau Stinder fast immer und in jeder nur denkbaren Phase entsetzt nannte und dabei die aufgeschlagenen „Workbooks des Grauens” vor den staunenden Augen der Klasse preisgab: „Seht euch diese Workbooks an: Myh...ling...house u-hund Mes...ken...daaahl!!!”, dann Einträge in ihr gefürchtetes rotes Büchlein machte.
Noch heute habe ich den angewiderten Singsang ihre Stimme im Ohr, so, als würde ein als Frau verkleideter Mann mit zu schriller Frauenstimme über Fäkalien sprechen.

Wenn ich Volker Meskendahl heute treffe, vielleicht auf dem Parkplatz eines Radevormwalder Supermarktes, dann sagen wir meist nur diese drei Worte „Myh...ling...house u-hund Mes...ken...daaahl”, in dieser speziellen Betonung und Tonlage zueinander, lachen ein wenig irr und gehen dann wieder unseren Verrichtungen nach, ohne groß weitere Worte gewechselt zu haben.

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P.S.: Wie ich zähneknirschend zugeben muss habe ich in diesen zwei Jahren tatsächlich fast schon unanständig viel gelernt :)