Während Oma nun den Abwasch machte - es hörte sich an, als würden von Schurkenstaaten unterseeische Atomtests durchgeführt - stand Opa auf und ging nach seinem zermalmten Mahl aufs Klo.
Ich wüsste nicht, dass er jemals schon nach 20 Minuten zurück gewesen wäre.
In seiner Abwesenheit entspannte sich Oma etwas.
Ich bekam einen Apfelsaft und für diese kurze Zeitspanne waren sogar normale Gespräche möglich. Irgendwie war es nun heller im Raum - und natürlich wärmer.
Dann kam er zurück.
In der Ecke stand seine "Duckelrolle", mit der kam er zurück zum Tisch und stellte sie vor sich hin auf die Tischplatte. Hierbei handelte es sich um ein graues, dickes, zylindrisches Kissen - gerade so als habe man versucht, einen Elefanten-Unterschenkel nachzubilden. Mein Großvater setzte sich in Position und legte die Stirn darauf. Ich musste jetzt nicht zu leise sein, denn Opa hörte ziemlich schlecht - wenn er wollte.
Kurzum war er eingenickt.
Der Siebenjährige mit dem Saft ihm gegenüber rückte leise den Stuhl etwas nach links, so dass er das Gesicht des Großvaters sehen konnte. Bald bildete sich ein klarer Tropfen an Opas Nase, wuchs langsam, reifte, brach auf wunderbare Arte und Weise das Licht - mehr wie Glycerin als Wasser, zitterte, dann fiel er auf den Tisch. Bald darauf erschien der nächste Tropfen, dann die Großmutter, die mit dem Abtrocknen und der Küche fertig war. Sie setzte sich an die Schmalseite des Tisches auf ihren Stuhl und legte die kurzen, dicken Beine auf einen Hocker.
Bald döste sie ein.
Ich trank meinen Apfelsaft, beobachtete die stetig fallenden Tropfen. Der Raum war erfüllt vom einschläfernden Bullern des Ölofens, dem Ticken der Wanduhr, dem gleichmäßigen Atmen und dem Geräusch von Haarnadeln, die sich aus Omas Haarknoten ("Knüsken") lösten und auf dem ochsenblutfarbenen Linoleumboden fielen, teilweise meterweit fortschlitterten.
Nach etwa 25 Tropfen erwachte mein Großvater und damit auch die Großmutter.
Er nahm sein Kissen mit zur Ecke, zog den Kittel an, die Kappe auf und schlurfte wieder zurück in seinen Betrieb.
Oma und ich atmeten auf.
An einem dieser Nachmittage erzählte Oma mir, wie erschütternd es für sie als 10-Jährige gewesen war zu erfahren, dass im April 1912 die Titanic gesunken war.
*) Nicht zu verwechseln mit dem in 1986 bei Jugend Forscht eingereichten Kurzfilm "Mein Opa schläft" (93 Minuten, Farbe, Mono) von M. Klingelhöfer, in dessen Höhepunkt (ab Minute 89) der schlafende Großvater mimisch versucht, eine Fliege (vermutl. Calliphora vicina) aus seinem Gesicht zu vertreiben.