Samstag, 29. Oktober 2022

Things we lost (in the fire) - Teil 14: Omas Zuckerdose

So in der Art, zumindest schon mal ähnlich

Als Kind war ich oft bei der Oma (mütterlicherseits). Die war Jahrgang 1902, hatte eine „höhere Töchterschule“ besucht und mit dem Henriette Davidis-Kochbuch kochen gelernt, da damals Dr. Oetker noch in einer Apotheke in Bielefeld herumdokterte. Einmal erzählte mir Oma, wie betroffen sie als zehnjähriges Kind der Untergang der Titanic gemacht habe, eine Art 9/11 ihrer Zeit. Bei Oma und Opa zu Hause gab es als Hintergrundgeräusche das Ticken der Wanduhr und das stete, gleichförmige Bullern des Ölofens. Es war immer so heiß, dass man hätte "Affen großziehen können" (Zitat Queen Mom). Nebenan, in der winzigen, schlauchförmigen Küche stapfte und glitt meine Großmutter auf ihren Pantoffeln hin und her und klapperte mit verbeulten Aluminium-Topfdeckeln. Mein Platz war an der Breitseite des Tisches in der Stube mit Blick auf das Fenster. Draußen gab es allerdings nichts zu sehen, denn das Fenster wurde ausgefüllt von der völlig uninteressanten Fassade des Nachbarhauses. Aus diesem Grund schaute ich oft in der Stube umher. Auf einem Regalbrett in über 2.00 m Höhe stand neben anderen dekorativen Keramikdosen eine weiße, keramische Zuckerdose mit passendem, dicken, oben glatten gedrehten Holzdeckel aus den 50er-Jahren. Die zylindrische Dose war bedruckt war sie mit einem breiten Band bestehend aus einem folkloristischen Muster, welches abwechselnd Männlein und Weiblein mit Hut darstellte, dazwischen war es abstrakt floral. Die Farben waren dunkelgrün, dunkelbraun und ein dunkles Lila. Mein Blick blieb immer wieder an dieser Dose haften, sie gehörte wie Oma an diesen Ort. Nachdem meine Oma gestorben war, ging sie in den Besitz von Tante Waltraud (TW) über und als diese von uns ging, erbte ich diese Dose.

Von allen Dingen, die ich besaß, war sie vielleicht der einzige Gegenstand, der es geschafft hatte, sogar in mein Genom eingewoben zu werden. Sie stand für ungezählte Kindheits-Nachmittage mit Oma und die vielen Male, die ich, die wir TW besucht haben. Es gab sie schon seit vor der Mondlandung, sie hatte mich seit den späten 60er-Jahren durch alle Zeiten begleitet.

In unserer Küche war sie zum ersten Mal als Zuckerdose in Benutzung. Ich habe sie behandelt wie ein Fabergé-Ei. Doch jedes Mal, wenn ich sie benutzte, dann strömte aus ihr eine Behaglichkeit vergangener überheizter Nachmittage bei Uhrenticken und Aludeckelgeklapper.

Was soll ich sagen? Was für ein Verlust.


P.S.: Erste intensive Recherchen gehen in Richtung der schwedischen Firma JIE Gantofta und der Designerin Anita Nylund. Ich werde hartnäckig bleiben.


Inhaltsverzeichnis der gesamten Serie